Eine vollständige Neufassung

Von Sebastian Goslar

Am 9. Mai 2019 hat die Regierungskommission Deutsche Corporate Governance eine vollständige Neufassung des Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) beschlossen. Diese wurde am 22. Mai 2019 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Vorangegangen war ein ungewöhnlich langes Konsultationsverfahren, das mit der Veröffentlichung einer Entwurfsfassung des DCGK am 6. November 2018 und am 31. Januar 2019 endete. Im Rahmen dieser Konsultation wurden über 100 Stellungnahmen von Verbänden, Unternehmen, Anwaltskanzleien und anderen interessierten Kreisen eingereicht. Die darin, zum Teil scharf geäußerte Kritik am Entwurf wurde von der Regierungskommission in erheblichem Umfang berücksichtigt.

Anders als bisher wird der DCGK künftig anhand von Aufgaben statt wie bislang nach den Organen der Aktiengesellschaft gegliedert sein. In diesem Zusammenhang wird er 25 sog. Grundsätze enthalten, welche wesentliche rechtliche Vorgaben verantwortungsvoller Unternehmensführung wiedergeben und der Information der Anleger und weiterer Stakeholder dienen sollen. Unter diesen Grundsätzen finden sich jeweils die ihnen zugeordneten Anregungen und Empfehlungen. Auf die bloß beschreibende Wiedergabe von Gesetzestexten wird nach Aussage der Regierungskommission künftig grundsätzlich verzichtet. Die neuen Grundsätze unterscheiden sich davon freilich wenig, stellen sie zumeist eine Zusammenfassung mehrerer gesetzlicher Regelungen bzw. Prinzipien dar. Ein praktisches Bedürfnis für die Neustrukturierung und –konzeptionierung des DCGK ist nicht erkennbar und wurde, soweit ersichtlich, aus der Praxis auch nicht geäußert. Vielmehr hatte sich der DCGK in seiner seit gut 16 Jahren bestehenden und punktuell fortentwickelten Form durchaus bewährt und Akzeptanz bei den Unternehmen sowie den übrigen Marktteilnehmern gefunden. Allerdings bringt die Änderung der Struktur für die nach § 161 AktG erklärungspflichtigen Gesellschaften nur einen überschaubaren Anpassungsbedarf mit sich.

Der DCGK wurde aber nicht nur grundlegend neu strukturiert, sondern es wurden auch zahlreiche Empfehlungen ergänzt bzw. geändert. Dies betrifft insbesondere die Anzahl der Aufsichtsratsmandate, die Konkretisierung der Anforderungen an die Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern sowie die Vorstandsvergütung. Zu erwähnen sind dabei insbesondere folgende Aspekte:

  • Ein Aufsichtsratsmitglied, das keinem Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft angehört, soll insgesamt nicht mehr als fünf Aufsichtsratsmandate oder vergleichbare Funktionen bei konzernexternen börsennotierten Gesellschaften wahrnehmen, wobei ein Aufsichtsratsvorsitz doppelt zählt. Vorstandsmitglieder einer börsennotierten Gesellschaft sollen insgesamt nicht mehr als zwei Aufsichtsratsmandate oder vergleichbare Funktionen in konzernexternen börsennotierten Gesellschaften und keinen Aufsichtsratsvorsitz in einer solchen Gesellschaft innehaben. Diese Empfehlungen stehen im Einklang mit den Abstimmungsrichtlinien der in der Praxis bedeutsamsten Stimmrechtsberater, Aktionärsvereinigungen und institutionellen Anleger.
  • Zwar bleibt es dabei, dass grundsätzlich der Aufsichtsrat selbst entscheiden soll, wann eine angemessene Anzahl seiner Mitglieder unabhängig von der Gesellschaft, ihrem Vorstand und einem kontrollierenden Aktionär ist. Dies ist unverändert dann anzunehmen, wenn das Aufsichtsratsmitglied in keiner persönlichen oder geschäftlichen Beziehung zu einer dieser Gruppen steht, die einen wesentlichen und nicht nur vorübergehenden Interessenkonflikt begründen kann. Jedoch wird der Beurteilungsspielraum des Aufsichtsrats, so er denn den entsprechenden Empfehlungen des DCGK folgen will, erheblich eingeschränkt, da ferner empfohlen wird, dass mehr als die Hälfte der Anteilseignervertreter unabhängig von der Gesellschaft und ihrem Vorstand sein soll. Für die Einschätzung der Unabhängigkeit der Anteilseignervertreter enthält der DCGK eine Reihe von Indikatoren, die sich in ähnlicher Form ebenfalls in den Abstimmungsrichtlinien von Stimmrechtsberatern und Investoren finden, hinter diesen jedoch teils zurückbleiben. So soll insbesondere zu berücksichtigen sein, ob das Aufsichtsratsmitglied selbst oder ein naher Angehöriger
    • in den zwei Jahren vor der Ernennung Vorstandsmitglied war;
    • aktuell oder im Jahr vor der Ernennung direkt oder als Gesellschafter oder in verantwortlicher Funktion eines konzernfremden Unternehmens eine wesentliche geschäftliche Beziehung mit der Gesellschaft oder einem von ihr abhängigen Unternehmen unterhält bzw. unterhalten hat;
    • ein naher Familienangehöriger eines Vorstandsmitglieds ist; oder
    • dem Aufsichtsrat seit mehr als 12 Jahren angehört.
  • Sofern die Gesellschaft einen kontrollierenden Aktionär hat, sollen mindestens ein Aufsichtsratsmitglied (bei Aufsichtsräten mit maximal sechs Mitgliedern) bzw. zwei Aufsichtsratsmitglieder (bei größeren Aufsichtsräten) von diesem unabhängig sein.
  • Die erstmalige Bestelldauer von Vorstandsmitgliedern soll im Einklang mit einer bereits heute weithin geübten Praxis 3 Jahre nicht überschreiten.
  • Langfristig variable Vergütungsbestandteile für Vorstandsmitglieder sollen von diesen entweder überwiegend in Aktien der Gesellschaft reinvestiert werden müssen oder entsprechend aktienbasiert gewährt werden. Dies stellt eine gewisse Erleichterung gegenüber der Entwurfsfassung des DCGK aus dem November 2018 dar, welche die Empfehlung enthielt, die langfristig variable Vergütung ausschließlich in Aktien der Gesellschaft zu gewähren. Gleichwohl überschreitet die Regierungskommission insoweit unverändert ihren Regelungsauftrag. Dieser besteht darin, anerkannte Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung darzustellen, nicht aber darin, aus einer Vielzahl denkbarer Vergütungsmodelle eine Entscheidung zugunsten eines bestimmten Konzepts zu treffen.
  • Die ungeliebten Vergütungstabellen des bisherigen DCGK werden gestrichen. Dies erfolgt vor dem Hintergrund, dass das Gesetz zur Umsetzung der geänderten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) verpflichten einen ausführlichen Vergütungsbericht einführen wird, der vermutlich ohnehin tabellarische Darstellungen wird enthalten müssen.
  • Über die Corporate Governance ist künftig allein in der Erklärung zur Unternehmensführung (§ 289f HGB) zu berichten. Der bisher ergänzend empfohlene Corporate Governance Bericht wird abgeschafft. Dies ist zu begrüßen, da es mögliche Unstimmigkeiten zwischen diesen Berichten vermeidet und interessierten Lesern die Information über die Grundsätze der Unternehmensführung erleichtert.

In der verabschiedeten Neufassung des DCGK nicht mehr enthalten ist die im Entwurf vorgesehene Ergänzung des gesetzlich vorgeschriebenen „Comply or Explain“-Prinzips hinsichtlich der Einhaltung der Empfehlungen um ein „Apply and Explain“. Dieses sah vor, dass Gesellschaft darlegen, wie sie die Empfehlungen und Anregungen umsetzen, denen sie folgen. Die Streichung dieser Empfehlung stellt aus Sicht der betroffenen Gesellschaften vermutlich die größte Erleichterung dar, weil unklar war, in welcher Art und Weise sowie Detailtiefe diese Darstellung hätte erfolgen sollen. Ferner hätte sie die Gefahr eines „information overload“ erhöht und vermutlich für Aktionäre und sonstige Kapitalmarktteilnehmer keinen echten Mehrwert.

Der geänderte DCGK wird erst mit Veröffentlichung durch das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz im Bundesanzeiger wirksam werden. Diese Veröffentlichung soll erst nach Inkrafttreten des ARUG II in die Wege geleitet werden, um etwaigen Anpassungsbedarf am DCGK aufgrund möglicher Änderungen des ARUG II im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch einarbeiten zu können. Mit einem Inkrafttreten ist somit vermutlich erst im Herbst 2019 zu rechnen. Dies gibt Gesellschaften Gelegenheit, sich mit ausreichendem zeitlichen Vorlauf auf die Neuregelungen des DCGK einzustellen.

Die verabschiedete Fassung des DCGK stellt gegenüber der Entwurfsfassung einen deutlichen Schritt in die richtige Richtung dar. Dennoch bleibt es dabei, dass die Regelungsdichte jedenfalls in Teilbereichen wie der Vorstandsvergütung zu hoch ist. Dies dürfte der Akzeptanz des neuen DCGK nicht zuträglich sein. Bedenklich ist auch die zunehmende Fokussierung auf die Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern und Vorstandsvergütung. Gute und verantwortungsvolle Unternehmensführung geht über diese beiden Themen deutlich hinaus. Es bleibt abzuwarten, ob das Ziel der Regierungskommission, die Rolle des Kodex im Wettbewerb mit den Abstimmungsrichtlinien anderer Akteure zu stärken, erreicht werden wird, und die in der jüngeren Vergangenheit lauter gewordenen Rufe nach einer vollständigen Abschaffung des DCGK verstummen werden.